Donnerstag, 4. September 2008

Warum uns WAGR weiter führt

Es gibt über 50 Syndrome mit Adipositas, von denen die meisten mit einer mehr oder weniger ausgeprägten mentalen Retardierung einher gehen. Bei einigen dieser Syndrome kann die Adipositas auf Probleme mit der Mobilität oder der kognitiven Kontrolle der Nahrungsaufnahme einher gehen. In vielen Fällen nimmt man aber an, dass der zugrunde liegende genetische Defekt direkt die Gene betrifft, die für die Energiekontrolle wichtig sind. Beim mit Heißhunger und Hyperphagie einher gehenden Prader-Willi syndrom beispielsweise, einem der häufigsten Syndrome mit einer bereits ab Kindheit auftretenden Adipositas, sind vermutlich genau die Gene, die das Syndrom verursachen, direkt in der Regulierung von Hunger und Appetit involviert.

Obwohl sie ziemlich selten sind, lassen sich diese syndromischen Adipositasformen als “natürliche Experimente" auffassen, und ihre eingehender Untersuchung kann Einblick in die komplexe Biologie der Energiehomöostase geben. Wenn sich die Gene finden lassen, welche diese seltenen Adipositasformen verursachen, könnte das zu neuen pharmakologischen Zielen und damit zu neuen Medikamenten führen, die vielleicht auch bei adipösen Menschen wirken, die nicht am betreffenden Syndrom leiden.

Diese Woche beleuchtet die Arbeitsgruppe von Joan Han (National Institutes of Health in Bethesda, MD) im New England Journal of Medicine das Gen, das für das extrem seltene WAGR syndrom (Wilms-Tumor, Aniridie, urogenitale Fehlbildungen und mentale Retardierung) verantwortlich ist. Diese Patienten bilden eine kleine Untergruppe der schweren, in der Kindheit beginnenden Adipositas. Verursacht wird das WAGR Syndrom durch einen Bruch der WT1- und PAX6-Gene, die auf dem Chromosom 11 lokalisiert sind. Durch Einsatz verschiedener Techniken fanden die Forscher, dass adipöse Individuen mit diesem Syndrom einen zusätzlichen genetischen Defekt haben, der das Gen für den Brain-Derived Neurotrophic Factor (BDNF) einschliesst.

Dass BDNF tatsächlich eng mit der Energieregulierung zu tun hat, wurde bereits aufgrund von Studien bei Mäusen und Fallberichten über adipöse Kinder vermutet, die entweder eine Mutation dieses Gens oder seines Rezeptors für das Genprodukt (TrkB) erkennen ließen. Die aktuelle Studie liefert nun schlüssige Evidenz, dass ein Defekt oder eine Insuffizienz dieses Gens tatsächlich zu einer hyperphagen Adipositas mit Beginn in der Kindheit führt.

Warum ist das wichtig? Wie das Begleiteditorial von Philippe Froguel und Alexandra Blakemore betont, zeigten Tiermodelle, dass BDNF, das im hypothalamischen paraventrikulären Kern freigesetzt wird, eng mit der Wirkung von anderen hypothalamischen Faktoren im Zusammenhang steht, die mit dem Nahrungsaufnahmeverhalten in Verbindung stehen, so mit dem a-MSH/MC4 Rezeptor-Signalweg und hemmenden Wirkungen des Neuropeptids Y. Die Infusion von BDNF ins Gehirn verminderte die Hyperphagie bei MC4R-defizitären Mäusen. Es ist daher vorstellbar, dass zerebral wirksame BDNF-Mimetika sich in der Adipositastherapie als wirksam erweisen könnten.

Selbstverständlich ist es ein langer Weg von der Identifikation eines potenziellen Ziels bis zum tatsächlich wirkenden Medikament, das sicher genug für die Anwendung beim Menschen ist. Aber neue Hoffnung auf eine Therapie kann nur durch ein besseres Verständnis der komplexen Neurobiologie des Nahrungsaufnahmeverhaltens entstehen.

Im Augenblick besteht unsere beste Therapie für die schwere Adipositas in chirurgischen Eingriffen. Vor diesem Hintergrund ist jede Hoffnung auf eine Behandlung willkommen, mit der sich die Zahl der Patienten, die definitiv chirurgisch behandelt werden müssen, senken lässt.

AMS
Edmonton, Alberta

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